Stärke, Macht, Status. Lange wurde beruflicher Erfolg genau mit diesen Begriffen verbunden. Schwäche zu zeigen oder emotional zu reagieren, kommt für viele Menschen im Business noch immer nicht in Frage. Wir müssen stressresistent sein und unsere Emotionen möglichst gut im Zaum halten. Aber ist es nicht eine Farce, dem gerecht werden zu wollen in einer Welt, die uns nicht nur wegen ihrer Schnelllebigkeit zusetzt, sondern in der sich auch Krise an Krise reiht? Die es uns mit ihrer allgegenwärtigen Unsicherheit immer unmöglicher macht, alles im Griff zu haben?
Angst und Verunsicherung nehmen zu
Nur hinter vorgehaltener Hand oder in der sicheren Umgebung eines Coachings bröckelt die Fassade. Ich erlebe regelmäßig, dass diese Zeit, in der nach dem Ukraine-Krieg die nächste humanitäre Katastrohe in Nahost stattfindet, in der die Nachwehen durch die Pandemie noch spürbar sind und in der die Rezession finanzielle Sorgen anheizt, dünnhäutig macht. Viele haben Angst, sind verunsichert, fühlen sich hilflos. Weitermachen wie bisher würde heißen, all dies zu verdrängen oder zu leugnen. Man muss kein:e Psycholog:in sein, um zu erkennen, dass das kein sinnvoller Weg ist.
Führungskräfte haben in unserer Gesellschaft eine besondere Verantwortung
Verunsicherung ist ein Gefühl, das so gar nicht in den Führungsalltag zu passen scheint. Doch das ist ein Trugschluss. Mit der Komplexität dieser Tage umzugehen bedeutet, sich einzugestehen, dass wir nicht die Antworten auf alle Fragen haben können. Ganz abgesehen von der Frage, ob das jemals der Fall war, gilt heute: Wir dürfen und müssen diese Unsicherheiten benennen und uns damit unvollkommen und verletzlich zeigen – auch im Business. Führungskräfte stehen dabei in einer besonderen Verantwortung.
Die Zeit der unverwundbaren Held:innen im Chefsessel ist vorbei.
Birgit Kersten-Regenstein
Sie können mit gutem Beispiel vorangehen und gewinnen dadurch auch noch: Indem Führungskräfte im Gespräch mit Kolleg:innen oder Mitarbeiter:innen offen eingestehen, dass sie gerade mit einer Situation zu kämpfen haben, machen sie sich nahbar. Dadurch entsteht Verbundenheit. Und das ist meiner Überzeugung nach genau das, wonach sich viele Menschen gerade am meisten sehnen. Im Krisengeschehen zu erfahren, dass ich mit all dem Gedankenkreisen und der vermeintlichen Schwäche nicht allein bin, gibt Sicherheit. Eine Chefin, die stets Status und Erfolg hochhält, kratzt dagegen an Minderwertigkeitsgefühlen und macht sich selbst zunehmend unglaubwürdig. Dies führt zur Entfremdung. Die Folge: Demotivation.
Führungskompetenz durch Verletzlichkeit
Die Zeit der unverwundbaren Held:innen im Chefsessel ist vorbei. Es lohnt sich, die Rüstung abzulegen oder zumindest mit offenem Visier zu agieren und die eigene Verletzlichkeit anzubieten. Denn liegt nicht der eigentliche Erfolg als Führungskraft darin, Identifikationsfläche zu bieten, Menschen zu erreichen und sie zu berühren? Der erste Schritt dahin ist, sich von den eigenen Helden-Allüren zu verabschieden, sich für die eigenen Schwachstellen zu sensibilisieren, was bedeutet: genau zu wissen, was einen verunsichert oder aus dem Gleichgewicht bringt. Sich der Muster und Mechaniken bewusst zu werden, die einen aus der Fassung bringen und damit offen umzugehen.
Das hat nichts mit Weicheierei zu tun, sondern bedeutet, glaubwürdig zu bleiben. Nur so kann eine Form der Sicherheit innerhalb der allgegenwärtigen Unsicherheit entstehen. Mitarbeiter:innen können sich öffnen und Führungskräfte erfahren so wesentlich mehr darüber, was sie bewegt, was sie motiviert. Mit der eigenen Verletzlichkeit gut umzugehen, gehört daher zu den absoluten Schlüsselkompetenzen für Führungskräfte, denn daraus entwickelt sich am Ende eine große Mitarbeiterbindungskompetenz – eine Stärke jenseits von Machtgehabe und Status.
Unsere Autorin Birgit Kersten-Regenstein
Birgit begleitet mit ihrem Unternehmen Teamkompetenz seit über 17 Jahren Führungskräfte in ihrer Kompetenzentwicklung, moderiert Teams, die sich in die Sackgasse manövriert haben, und unterstützt Menschen, ihre Resilienz, ihre innere Unabhängigkeit und ihre Integrität zu stärken. Denn gute Führung braucht ihrer Erfahrung nach vor allem eins: Persönlichkeit. Zu ihren Kunden zählen namhafte Unternehmen wie Dr. Oetker, Miele, s.Oliver oder die Deutsche Bahn.