Wann fühlst du dich gut? Wenn dein Terminkalender voll ist und du gebraucht wirst? Oder wenn du „Nein“ zu allen Verpflichtungen sagen kannst und Zeit zum Entspannen hast? Zum Start in die besinnliche Stressphase namens Advent denke ich darüber nach, was mehr als Statussymbol taugt: Zeit oder Stress – und in welchem Spannungsverhältnis dazu unsere psychische Gesundheit steht.
Julia Knörnschild hat in ihrer Instagram-Community den „No-vember“ ausgerufen. Der November wird zu dem Monat, in dem die Berliner Influencerin und Podcast-Hälfte von Mama Lauda mehr „Nein“ sagt. Zu Terminen. Zu ihrem quengelnden Kind, das Süßes beim Bäcker will. Zu Verpflichtungen. Das tut ihr gut, denn sie setzt Grenzen.
In diesem Jahr hat sie ihre ADHS-Diagnose erhalten und war in einer Tagesklinik, um ihrer ständigen Erschöpfung auf den Grund zu sehen. Seit einigen Wochen kann man ihr auf ihrem Instagram-Kanal dabei zuschauen, wie sie sich nahezu regelmäßig in die Erschöpfung arbeitet, um dann wieder in eine Regenerationsphase zu starten, in der sie Bilder malt und alle Staffeln „Gilmore Girls“ schaut. Aus diesem Teufelskreis will sie ausbrechen: Diesen November sagt sie „Nein“.
Stress ist für mich kein Statussymbol, sondern im Hinblick auf meine psychische Gesundheit tunlichst zu vermeiden.
Christiane Kürschner
Ich versuche mitzumachen und mehr Nein zu sagen, und das kann ich tatsächlich ganz gut. Mit dem St.-Martins-Fest am vergangenen Wochenende fiel nun endgültig der Startschuss in die wirklich anstrengende Vorweihnachtszeit. Ab jetzt rechnen Eltern in Adventszeit-Nikolaus-Weihnachten-Silvester-Taktung. Da sage ich gern zu allen unnötigen Events und To-dos: No.
Während ich Julia zuschaue und für einen Beitrag zum Thema „Statussymbole“ über eben jene nachdenke, frage ich mich, ob dieses „Nein“ sagen und sich Zeit nehmen das neue Statussymbol ist. Ich google es und erhalte widersprüchliche Antworten. Als Statussymbole gelten Zeit und Stress gleichermaßen. Kann das sein?
Wer Stress hat will Zeit – und umgekehrt
Klar. Insbesondere in unserem kapitalistisch geprägten System zeigt Stress, dass man gebraucht wird und eben keine Zeit zu verplempern hat. Ich erinnere mich an die Anfänge meiner Selbstständigkeit vor nunmehr zwölf Jahren: Wäre mein Auftragsbuch leer gewesen, wäre das eine Kapitulation gewesen. Hast du als Selbstständige Stress, ist das also erst einmal ein relativ gutes Zeichen. Aber meine Beobachtung ist auch, dass sich diese Wahrnehmung ab einem bestimmten Moment dreht.
Für meine psychische Gesundheit auch mal einen Auftrag absagen
Wenn ich heute übermäßigen Druck und Stress im Job habe, checke ich eher, ob ich mein Selbstmanagement anpassen muss oder vielleicht besser ein, zwei Jobs absagen sollte. Stress ist für mich kein Statussymbol, sondern im Hinblick auf meine psychische Gesundheit tunlichst zu vermeiden. Es ist Luxus, sagen zu können: Heute arbeite ich nicht, sondern fahre nach Berlin, um mich dort mit Freund:innen durch meine Lieblingskieze zu (fr)essen. Oder ich bleibe im Bett und höre Podcasts. Oder ich gehe in den Garten. Ein Traum. Geht das nur mir so? Sicher nicht.
Julia Knörnschild spricht über ihre psychische Gesundheit
Aber kommen wir auf Julia zurück. Wir sind ja quasi (unbekannterweise) Schwestern, denn auch sie arbeitet selbstständig in der Berliner Medienbubble, hat Aufträge abzuarbeiten, zwei Kinder, ein Privatleben und einen exzellenten Humor. Sie hatte den Mut, in ihrem Podcast und nun bald zwei Büchern (im Februar 2024 erscheint ihr zweites Buch) über psychische Gesundheit zu sprechen.
Sie redet über Doppelbelastungen, Ansprüche an sich selbst und den Stress, den sie sich daraus macht. Und sie zelebriert Auszeiten, in denen sie den Stecker zieht. Sie kann das, denn sie ist selbstständig. Sich diese Zeit zu nehmen zu können, ist Luxus, den viele andere Menschen in klassischen Festanstellungen nicht haben. Wenn Angestellte im öffentlichen Dienst im November den kompletten Jahresurlaub für das kommende Jahr einreichen müssen, darf keine Erschöpfung die Pläne durchkreuzen.
Was passiert, wenn ich jetzt, mit genügend Geld auf der hohen Kante, alle meine Aufträge für das restliche Jahr absage, ohne Aussicht auf neue Aufträge im Januar?
Christiane Kürschner
Zeit ist für all diejenigen ein Statussymbol, die keine haben. Menschen ohne Job und Aufgaben haben eine Menge davon, können sie aber oft weniger genießen. Sie sehnen sich eher den Stress herbei, dem geschäftige Menschen ausgeliefert sind. Was sagt es also aus, wenn wir den „No-vember“ feiern und das Thema psychische Gesundheit trendet? Der Wirtschaft scheint es gut zu gehen, denn es gibt allerhand zu tun und abzulehnen.
Psychische Gesundheit als Status quo halten
Wir können uns also weiterhin damit beschäftigen, den Stress zu bekämpfen – um dann was? So wenig zu tun zu haben, dass wir uns wieder schlecht, nutzlos fühlen? Was passiert, wenn ich jetzt, mit genügend Geld auf der hohen Kante, alle meine Aufträge für das restliche Jahr absage, ohne Aussicht auf neue Aufträge im Januar? Zeit würde wahrscheinlich an Wert verlieren und ich würde wieder auf das Auftragsbuch schielen. Die Balance zwischen diesen beiden Zuständen zu halten, das kostet etwas.
Das macht etwas mit mir und auch mit der Gesellschaft, dessen bin ich mir sicher. Es ist ein ständiges Austarieren von Zuständen zwischen dem Auslösen des menschlichen Grundbedürfnisses des „Gebraucht Werdens“ und und dem Bedürfnis des „Sich Zurückziehens“, und beides fordert die Gesellschaft von uns. Wer nicht busy ist, ist nicht interessant. Wer aber dann aufgrund von Stress mit der eigenen psychischen Gesundheit struggelt, wird auch bemitleidet.
Vielleicht erklärt das die Gleichzeitigkeit von Stress und Zeit als Statussymbolen. Es scheint mir eine gute Sache zu sein, für sich selbst zu klären, wie man dazu steht, und eine Haltung einzunehmen. Ich sage erst einmal weiter „Nein“ und schaue, dass ich möglichst ohne Stress durch den Advent komme – in der weisen Voraussicht: Der Stress kommt ganz von allein wieder. Mal schauen, ob ich ihm die Tür öffne.