Ungläubig starrte ich auf das Ergebnis des Myers-Briggs* Persönlichkeitstests. Ich sollte introvertiert sein? Eine von denen, die den Mund nicht aufbekommen? Das musste ein Irrtum sein. Mein Spitzname als Kind war Schnatterinchen, weil ich ununterbrochen quatschte. „Kannst du auch mal den Mund halten?“, war wohl der häufigste Satz, den ich zu hören bekam.
Introvertiert war für mich die Klassenkameradin, die den ganzen 20-minütigen Schulweg über schweigend auf den Weg starrte und mich damit in den Wahnsinn trieb. Introvertiert war Gianfranco**, der Kommilitone, der noch nie freiwillig irgendetwas zur Diskussion beigetragen hatte. Aber ich doch nicht?!
Was für ein Missverständnis. Und damit bin ich auch schon beim einzigen Punkt, den ich an Susan Cains ansonsten fantastisch recherchiertem Buch über Introversion „Still: Die Kraft der Introvertierten“* kritisieren muss: den Titel, „Quiet“ im Original und „Still“ in der deutschen Ausgabe.
Still ist negativ konnotiert, denn ruhig sein wird in unserer extrovertierten Kultur mit wenig Selbstbewusstsein assoziiert. Dabei haben Intros Selbstbewusstsein – sie haben nur nicht das Bedürfnis, es ständig vor sich herzutragen. Sie sind vielleicht weniger laut, aber nicht unbedingt still als Mensch in ihren Eigenschaften.
1. Introvertierte können ziemlich extrovertiert sein.
Introvertierte, schrieb Carl Jung, seien von der inneren Welt der Gedanken und Gefühle angezogen, Extrovertierte von der äußeren Welt der Menschen und der Aktivität. Introvertierte versuchen das Leben zu verstehen, Extrovertierte stürzen sich hinein. Introvertierte schöpfen ihre Energie aus dem Alleinsein, während Extrovertierte am besten unter Menschen auftanken können.
Gerade in extrovertierten Kulturen (die USA sind ein Extrembeispiel) findet man jedoch viele Pseudo-Extrovertierte, also Menschen, die schon als Kinder gepusht wurden, sich typische Extro-Qualitäten als Eigenschaft anzueignen. Wie diese umgeschulten Linkshänder, nur für Persönlichkeit.
Das kann einerseits nützlich sein, um in einer solchen Kultur (insbesondere in der Geschäftswelt) zu funktionieren – andererseits aber auch sehr erschöpfend, weil ständig Bedürfnisse ignoriert und Grenzen überschritten werden. Für Kinder ist es oft eine Überforderung. Cain beschreibt, wie die Anforderungen der Geschäftswelt immer mehr in Schulen und sogar Kindergärten getragen werden: „Du musst dich präsentieren, du musst dich verkaufen, du musst dich im Team durchsetzen.“ Intro-Kinder ticken anders. Leider schafft unser Bildungssystem ihnen oft zu wenig Raum, mit ihren Qualitäten zu glänzen. (Ausnahme wieder mal: die Montessori-Pädagogik)
Ich selbst stamme aus einer Familie, in der alle ununterbrochen reden (think Woody Allen movie) und habe diese Verhaltensweise wohl als Kind übernommen. ???? Das ist einer der Gründe, warum mich das Testergebnis so überraschte.
Der Persönlichkeitstest war Teil meines Masterstudiums – und er war das prägendste Erlebnis in diesen zwei Jahren. Nachdem ich das Testergebnis mit den Informationen über mich erst anzweifelte und dann ablehnte ???? , machte sich diese angenehme Ruhe in mir breit, die oft bahnbrechende Selbsterkenntnis begleitet.
DESHALB also lief ich auf dem gemeinsamen Weg zur Uni gern allein am Schluss der Gruppe – ich brauchte den Weg, um mich für den Tag zu sammeln. DESHALB quatschte ich nicht die ganze Mittagspause durch – ich brauchte meine Ruhe zwischen den vielen Diskussionen im Seminar. DESHALB ging ich nur jeden zweiten Abend mit den Kommilitonen essen – ich lud zwischendurch meine Batterien auf. MIT MIR WAR ALLES OK. Ich war einfach ein Intro! Und zwar einer von der extrovertierteren Sorte, denn:
2. Intro- und Extraversion sind ein Spektrum.
Es gibt die Extreme an beiden Enden – und dazwischen ganz viele Nuancen. Natürlich spielen auch noch weitere Persönlichkeitsmerkmale eine Rolle. In der Persönlichkeitspsychologie spricht man von den Big Five:
- Offenheit für Erfahrungen (Aufgeschlossenheit)
- Gewissenhaftigkeit (Perfektionismus)
- Extraversion (Geselligkeit)
- Verträglichkeit (Rücksichtnahme, Kooperationsbereitschaft, Empathie) und
- Neurotizismus (emotionale Labilität und Verletzlichkeit)
Ich persönlich finde beide Extremausprägungen schwierig. Mit extrem Extrovertierten gebe ich mich – pardon – gar nicht mehr ab. Da kommt einfach kein Gespräch zustande. Es läuft ungefähr so. Ich erzähle dem Extrem-Extro gerade etwas, was mir total wichtig ist, und dann: „Ach, klasse, darüber musst du mir gleich mal mehr erz… Na hellooooo, Katharina, schön dich zu sehen! Heeeey, Torsten…“
*Extro springt auf, begrüßt enthusiastisch zehn weitere Leute und vergisst, dass ich existiere*
Im Studium hatten wir zwei Italiener. Marcello war das wandelnde Klischee eines Italieners: Er redete und gestikulierte ununterbrochen, hing in jeder Pause am Handy und fluchte wie ein Kesselflicker. Jeden Abend ging er aus und feierte bis in die Morgenstunden. Er kannte über alle Jahrgänge hinweg jeden an der Uni, auch die Profs. Man könnte sagen: Er machte einen verdammt guten Job als Botschafter einer extrovertierten Kultur.
Sein Landsmann Gianfranco war das genaue Gegenteil. Niemand hatte ihn jemals drei Sätze am Stück sprechen hören. Er war extrem ruhig und beobachtete seine Umgebung durch dicke Brillengläser. Bis heute frage ich mich, wie er in Italien überlebt. ???? Nach meiner „Diagnose“ als Intro war ich allerdings ganz neu sensiblisiert für das Thema, fühlte eine gewisse Seelenverwandtschaft und war irgendwie auch neugierig, was wohl in ihm steckte.
Eines Abends (ein offizieller Anlass, deshalb war er überhaupt anwesend) gelang es mir, ein Gespräch mit Gianfranco anzuzetteln. Es war die längste, intensivste und spirituellste Unterhaltung, die ich je mit irgendeinem meiner Kommilitonen geführt hatte. Gianfranco ließ mich in die Tiefen seiner Seele blicken. Wir diskutierten die großen Fragen des Lebens. Danach kam: nichts mehr. Es war eine kurze, intensive Verbindung. Aber ich denke gern daran zurück und fühle mich geehrt, dass er sich mir anvertraute.
Gianfranco war der lebende Beweis dafür, dass es in einer Kultur mit extrovertiertem Ideal eben auch extrem introvertierte Menschen gibt. Ich vermute, sie haben es nicht leicht. Genauso wie eine extrem temperamentvolle Schweizerin Probleme bekommen oder ein äußerst bedächtiger Brasilianer in seiner Umgebung als Exot gelten dürfte.
3. Stille Wasser sind tief.
Ja, sind sie, da hat der Volksmund wieder mal Recht. In dieser Beziehung bin ich voll auf der Intro-Linie: Ich hasse oberflächliche Unterhaltungen. Ich hasse Smalltalk. Lang-wei-lig! Ich kann mir auch nicht merken, wer wo im Urlaub war und wann wieder welche Feiertage anstehen. Dieses „Na, haben Sie gut hergefunden?“ ist nicht meine natürliche Art zu kommunizieren. Ich gehe gern ohne Vorwarnung in medias res, habe aber gelernt, dass es einige Leute irritiert. Was ja manchmal auch ganz nützlich sein kann, hehe.
Da Intros weniger damit beschäftigt sind, mit der Außenwelt zu interagieren, haben sie mehr Zeit, zu beobachten und sich Gedanken (und Gefühle) zu machen. Das führt zum nächsten Punkt:
4. Intros sind eher pessimistisch.
Oder wie ich es gern nenne: realistisch. Es sind eher die Introvertierten, die Zweifel anmelden am neuen Projekt, die den Sinn von Maßnahmen hinterfragen und (manchmal auch übertriebenerweise) Gefahren wittern. Gerade in der Arbeitswelt kann es entscheidend sein, Intros an Bord zu haben – und vor allem dafür zu sorgen, dass sie zu Wort kommen und gehört werden. Sie sind ein Gegengewicht zu den spontanen Glamour-Ideen der Extros. Vielfalt ist auch hier das Zauberwort.
5. Introvertierte sind das Gewissen der Welt.
Klingt etwas pathetisch, ist aber logisch. Da sie sich mehr Gedanken über das Leben an sich und die Konsequenzen von allem machen, haben sie oft ein ausgeprägtes soziales Gewissen. Sie sind eher philosophisch und spirituell ausgerichtet als materialistisch und hedonistisch.
Intros fühlen sich am wohlsten und können am besten aus sich herausgehen (d. h. als Pseudo-Extrovertierte agieren), wenn sie sich für etwas engagieren, das ihnen wichtig ist. Sie sind sehr schlecht darin, Begeisterung zu faken. (Da bin ich zu 100 Prozent Intro!)
6. Intros können jeden Job machen.
Ich gehe normalerweise nicht gerade hausieren damit, introvertiert zu sein (haha, jetzt schon!), denn ich wurde schon mehrmals schräg angeguckt: Wie kann man denn als Introvertierte Pressesprecherin sein?
Das geht sehr gut, denn es gibt zwei Sorten Pressesprecher: Die, sich gern im Rampenlicht die Eier schaukeln – und diejenigen, die ihren Oberhäuptlingen den Vortritt lassen und ihnen den Rücken freihalten. Ich habe mich zu letzteren gezählt. Was nicht heißt, dass ich nicht auch ein Rampensau-Gen habe.
Überhaupt sind überraschend viele Menschen, die auf der Bühne stehen, introvertiert: Schauspieler, Musiker, Comedians, Lehrer, Wissenschaftler. Sie können sich für eine gewisse Zeit „anknipsen“, haben auch wirklich Spaß dabei, brauchen dann aber wieder dringend und ausreichend alone time, um sich zu regenerieren. Ich würde es mal so definieren: Die Extros gehen hinterher noch mit ihren Fans einen trinken, die Intros verschwinden grußlos durch die Hintertür. ???? Das ist nicht böse gemeint, es reicht dann einfach.
7. Introvertierte sind gute Führungskräfte.
Das war noch so ein Punkt, der mich anfangs irritierte: Ich war immer mit einer gewissen Selbstverständlichkeit in einer Führungsrolle: Schon im Kindergarten war ich oft die Anführerin, in der Schule wurde ich regelmäßig zur Klassensprecherin gewählt und im Beruf hatte ich einige Führungsjobs inne. Wie geht das denn mit Introversion zusammen?
Susan Cain, die Autorin des oben erwähnten Buches, hat eine hervorragende Arbeit geleistet, sich durch unzählige Studien zu Intro- und Extraversion gewühlt und Wissenschaftler persönlich aufgesucht und interviewt. Dabei fand sie u. a. heraus, dass Introvertierte besonders gute Führungskräfte sind: und zwar wenn es darum geht, Verantwortung zu teilen, sich im Team zu beraten und gemeinsam Lösungen zu finden.
Während der extrovertierte Chef erst mal eine halbstündige „Geile-Sau“-Rede über seine eigene Genialität hält, um im Anschluss die Marschrichtung fürs ganze Team vorzugeben, hört die introvertierte Chefin ihren Leuten genau zu und ist dadurch in der Lage, auch andere Lösungen anzunehmen oder zu integrieren. Das bedeutet auch:
8. Die neue Arbeitswelt braucht mehr Introvertierte in der Chefetage.
Warren Buffet, Bill Gates und Mark Zuckerberg gelten als Introvertierte. Vielleicht hat gerade dieses Persönlichkeitsmerkmal sie erfolgreich gemacht. Denn Intros gelten als gute Zuhörer und Förderer von Eigeninitiative. Sie können Impulse von Teammitgliedern gut aufgreifen. Damit verfügen sie über eine Schlüsselkompetenz in einer komplexen Welt, in der der Einzelne nicht mehr alle Informationen besitzt. Einsame Entscheidungen sind heute ein Risiko.
Extrovertierte wiederum sind die besseren Führungskräfte bei eher passiven Mitarbeitern. Das heißt: in der old work, in HORGs.
9. Intros brauchen Rückzugsmöglichkeiten.
Und zwar wie die Luft zum Atmen. Nach meiner „Diagnose“ wurde mir klar, warum ich auf den meisten Partys irgendwo rumstand (oder -lag) und mir wünschte, ich wäre zu Hause auf dem Sofa, mit einem guten Buch und einer Tasse Tee. Denn das ist der natürliche Habitat des Intros. (Und natürlich: der Wald, die Berge.)
In der Arbeitswelt heißt das, der ständige Zwang zu Teamwork, Austausch und Kollaboration erschöpft 30–50 Prozent der Arbeitenden. Denn so hoch wird der Anteil von Introvertierten an der Bevölkerung geschätzt. Einsames, konzentriertes Lernen und Arbeiten ist die Domäne der Introvertierten und bringt nachgewiesenermaßen bessere Ergebnisse.
Großraumbüros in der reinsten Form sind die Hölle für Intros. Aber auch ein Zweierbüro mit einem extrem extrovertierten Menschen (hängt nonstop lautstark am Telefon, die halbe Abteilung kommt kleckerweise zum Klönen vorbei) kann der Horror sein. Denn:
10. Viele Introvertierte sind hochsensibel.
Oh Gott, was denn noch? In diesem Fall ist es aber wissenschaftlich belegt. In einer Studie mit Babys stellte man fest, dass gerade die sensibelsten (high-reactive) Babys später zu introvertierten Erwachsenen wurden. Die Babys, die wir in Berlin „ruhige Bucker“ nennen, weil sie kaum auf äußere Reize reagieren, wurden später zu Extros. Des Rätsels Lösung: Letztere suchen Stimulation (andere Menschen, laute Musik, Licht, Mannschaftssport, Alkohol, Drogen), während die hochsensiblen Intros schon genug mit all den Reizen zu tun haben, die sie wahrnehmen.
11. Sind wir nicht alle ein bisschen Intro?
Ich bin eigentlich kein Fan von Labels, die die Menschen in immer kleinere Untergruppen einteilen: introvertiert, laktoseintolerant und hochsensibel. Auch das war ein Grund, warum ich wenig begeistert war von meiner „Diagnose“.
Vor allem hat sie definitiv meine Introversion verstärkt. Es sind quasi alle Hemmungen gefallen, meine Introseite voll auszuleben, hehe. Aber das ist auch OK, schließlich habe ich sie lange genug unterdrückt. „I’m happy in my own head“, wie ein Protagonist im Buch es ausdrückt.
Sicher war ich als Kind extrovertierter und habe mich über die Jahre (auch dank Meditation und dem drohenden Verlust meiner Stimme) stärker in Richtung Introversion entwickelt. Es ist aber nachgewiesen, dass die meisten Menschen mit dem Alter introvertierter werden. Das ist Teil des Reifeprozesses, schreibt Cain.
Am Ende möchte ich noch mal betonen, dass einige meiner besten Freunde Extrovertierte sind. ???? Sicher nicht am extremen Ende des Spektrums, aber schon lauter und raumfordernder als ich. Ich kriege neue Impulse von ihnen. Und sie fragen mich oft um Rat.
Denn letztlich ist es so: Intros brauchen Extros, die sie ein bisschen fordern und sie mitnehmen zu neuen Ufern. Extros brauchen Intros, die ihnen das aufzeigen, was sie selbst nicht wahrnehmen können.
*Der MBTI hält – wie die meisten Persönlichkeitstests – einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand. Ich muss trotzdem sagen, dass ich mich durch mein Testergebnis (auch in den anderen drei Dimensionen) erkannt gefühlt habe. Am meisten hat mich dieser Satz in der Auswertung begeistert: „Unter den Menschen mit diesem Persönlichkeitsprofil sind viele Schriftsteller.“ ????
Buchtipps & Links:
- Lydia Krüger bei karriereletter.de: „Wie das Großraumbüro erfunden wurde“
- Natalie Schnack: Netzwerken für Introvertierte