Rituale? Ist das etwas mit Räucherstäbchen, Klangschalen und Entspannungsmusik? Ja, klar, wenn du das möchtest! Aber Rituale im Alltag können noch sehr viel mehr, sehr subtil sein. „Wir gestalten immer und ständig Rituale“, sagt Heike Kuhl. Wir sprachen mit der Beziehungs- und Übergangsgestalterin über die große Kraft von kleinen Ritualen im Alltag.
Steigen wir doch mit einer einfachen Frage ein: Heike, welche Rituale gehören zu deinem Alltag?
Gewohnheiten, es gehören viele Gewohnheiten zu meinem Alltag. Gewohnheiten sind hilfreich für die immer gleichen Tätigkeiten und ermöglichen, dass ich diese Tätigkeiten nicht vergesse. Sie haben aber mit Ritualen und Bewusstheit nicht viel zu tun.
In meinem Alltag führe ich morgens und abends Rituale durch. Morgens frage ich mich, wie ich mich heute erleben möchte. Vielleicht habe ich eine Herausforderung vor mir und möchte mich ruhig und klar erleben. Oder ich halte einen Workshop und möchte mich inspirierend erleben. Das mache ich nicht jeden morgen, aber immer, wenn es mir wichtig ist. Damit richte ich mich aus – where focus goes, energy flows.
Und das zweite Ritual?
Zum Einschlafen nutze ich ein Ritual, das ich schon sehr, sehr lange durchführe und aus der Sterbebegleitung kenne. Es ist so einfach wie schwer: Ich konzentriere mich darauf, dass ich nicht weiß, wann ich sterbe. Dass ich nur das Jetzt wirklich habe und in mir sicher bin, auch wenn der äußere Bezugsrahmen und der Körper zerfällt. Ich nenne das immer „Sterben üben“. Ich gehe von einem Bewusstseinszustand in einen anderen, von der Wachheit in den des Schlafens. Und das immer in dem tiefen Vertrauen, morgen wieder aufzuwachen.
Rituale bewirken, dass ich mir Raum für mich selbst gebe.
Heike Kuhl
Wir sind ja auch in dem tiefen Vertrauen, dass nach dem Winter der Frühling kommt…
Genau, dieses Vertrauen haben wir meist nicht, wenn es darum geht, aus diesem Leben zu gehen und zu sterben. Wir müssen loslassen, um von einem in den anderen Bewusstseinszustand zu kommen – und das kann man üben. Das Alte ist weg, und das Neue ist noch nicht da. Dazwischen ist ein Raum. Je mehr ich aus diesem Ritual eine Gewohnheit mache, desto mehr trägt es mich, wenn ich tatsächlich aus diesem Leben gehe. Den Tod anzunehmen, heißt immer gleichzeitig auch leben lernen. Also auch für meinen Alltag empfinde ich das als unterstützendes und förderliches Ritual.
Was bewirken Rituale im Allgemeinen?
Wir können uns aus Ritualen positive Gewohnheiten erschaffen. Aber am allermeisten ist das für mich ein Weg, um mir Raum und Verbindung mit mir zu geben. Mit dem, was ist. Mit meinen Bedürfnissen, Gefühlen. Mit dem, was ich wirklich will, mir wirklich am Herzen liegt. Kurz: Mit dem, wer ich bin. Mit der Verbindung zu mir und dem Universum. Hört sich das zu spirituell an? (lacht) Ach, egal. Religion kommt von „religare“, was „zurückverbinden“ bedeutet. Also sich mit dem Ursprung verbinden. Das ist für mich Religion. Und das wird durch Rituale unterstützt.
Geburtstagsritual
Einen Tag vor dem Geburtstag schaue ich, was ich loslassen will: Was ist mir nicht mehr nützlich? Immer anerkennend, dass es zuvor seinen Wert hatte, aber jetzt vielleicht nicht mehr dienlich ist und gehen darf. Was darf oder soll im alten Jahr bleiben? Und am Geburtstag frage ich mich: Was will ich in diesem neuen Lebensjahr erleben? Was soll sein? Was will ich umsetzen? Welche Beziehung will ich stärken? Welches Projekt angehen oder umsetzen? Was soll wirklich kommen?
Nutzt du Rituale auch in Coachings?
Ja, im Paarcoaching arbeite ich beispielsweise viel mit der Differenzierung. Da geht es darum, herauszufinden: Wie sehr bin ich in der Lage, gleichzeitig bei mir und meinen Bedürfnissen und gleichzeitig bei meinem Gegenüber und dessen Bedürfnissen zu sein? Auch hierfür sind Rituale in der Gruppe ein großartiger Übungsraum. Dazu ist es einfach schön und verbindend.
Grundsätzlich ist Coaching immer eine Form, Zustände in Veränderung zu begleiten, – ob mit Einzelpersonen, Paaren, Teams oder mit Gruppen. Rituale nutze ich hier zusätzlich, sie kennzeichnen eine Handlungspraxis nach festgelegter Ordnung. Unterstützend ist dabei, alle Sinne anzusprechen, zum Beispiel durch Gerüche, Klang, einen schönen und sicheren Rahmen. Das erlaubt mir, mich zu entspannen, mich einzulassen und mit mir und den Anderen in Verbindung zu sein.
Wann helfen uns Rituale im Alltag besonders gut?
Unser Leben ist durch Übergänge geprägt. Das können berufliche Veränderungen sein: vom Eintritt in den Beruf über Neuorientierung und Rollenwechsel bis hin zum Berufsaustritt in den Ruhestand. Oder Pubertät, Wechseljahre und Tod; Auch hier geht es um Übergänge, in denen ich in Veränderung bin. Das ist erstmal mit Unsicherheit verbunden. Genauso, wenn zum Beispiel eine Liebe endet, eine Kündigung ansteht, ein Umzug oder eine Hochzeit. Alle diese Zustände sind begleitet von Wünschen, aber auch von Ängsten. Sie gehen mit Unsicherheiten einher und können mit Ritualen gestaltet werden, damit ich wirklich dahin komme, wo ich hin möchte.
Ritual „Status quo“
Wie geht es dir? Wenn dir die Antwort fehlt, dann zeichne die Umrisse einer Batterie auf ein DINA 4 Blatt auf. Oben ist ein grünes Feld für Plus und unten ein rotes für Minus. Schreibe in das grüne Feld: Was gibt dir gerade Energie? Und in das rote Feld: Was raubt dir gerade Energie? Erkenne beide Felder an. So ist es, das ist der Stand der Dinge. Erst danach kannst du schauen, was Erkenntnisse und mögliche Handlungen daraus sein könnten.
Und wie wirken Rituale bei solchen Veränderungen?
Rituale bewirken, dass ich mir Raum für mich selbst gebe. Dass ich mich spüre, mit mir in Kontakt bin, weiß, was ich will und wie ich dahin komme. Sie schaffen Zusammengehörigkeit und Identität. Rituale bringen zudem Ordnung und Ruhe in den Alltag, helfen Veränderungen zu bewältigen, ermöglichen Begegnung und Beziehung. Ich würde sagen, Rituale gehören zur Natur des Menschen.
Du sagtest gerade, dass Rituale Ordnung und Ruhe in den Alltag bringen. Haben wir das Ritualisieren in unserem stressigen Alltag vielleicht verlernt?
Nein, nicht im Bezug auf das Gestalten. Wir gestalten immer und ständig Rituale: Mit einem Podcast einschlafen, Instagram in der Bahn, die Kippe in der Pause, der Tatort am Sonntag. Die Frage ist eher, ob uns diese Rituale wirklich gut tun, ob sie wirklich unterstützend und förderlich für uns sind.
Es gibt keine Rituale “von der Stange”.
Heike Kuhl
Wir sollten also schauen, welche Rituale wir pflegen, und wie sie sich auf unsere körperliche und psychische Gesundheit auswirken?
Ja, denn wir sind nicht darauf geschult, uns mit uns selbst zu beschäftigen. Ganz im Gegenteil. Wir sind ganz stark darauf konditioniert, Anforderungen von außen zu erfüllen. Wenn wir dann in Situationen kommen, wo wir uns mit uns selbst beschäftigen müssen, sind die meisten von uns relativ überfordert. Weil die wenigsten wissen, was ihre Werte und Interessen sind und was sie wirklich gut können, – geschweige denn, dass sie gut darin sind, sich Raum für sich und zum Spüren zu geben. Oft ist es leichter, nicht zu spüren, wo und wie wir in der Welt sind, weil wir ansonsten auch die Konsequenzen dessen an uns heranlassen müssten.
Daraus entnehme ich, dass Rituale kein Lifestyle-Optimierungs-Tool sein können. Wenn wir Rituale richtig nutzen, sind sie auch immer ein Weg zur Reflexion und eine Möglichkeit, sich selbst besser kennenzulernen. Sie machen viel auf, oder?
Ja, das ist auf jeden Fall ein Potenzial, das Rituale haben. Dennoch hängt es immer von meiner Intention ab, was ich mit und durch Rituale erschaffen möchte. Genau aus diesem Grund gibt es nicht Rituale “von der Stange”. Ich für mich schaue immer, was mich selbst oder – in meiner Arbeit als Coach – meine Klient*innen unterstützt. Und das sollte auch jede*r für sich selbst herausfinden.
Vielen Dank, liebe Heike!
Heike Kuhl…
ist systemische Beziehungs- und Übergangsgestalterin sowie systemischer Paar- und Familiencoach. Sie arbeitet als Seniorcoach im COACHING LADEN in Berlin sowie als Jobcoach in ihrem Unternehmen Kuhl & Engel.