Der erste Blick morgens geht zum Smartphone, der erste Griff auch. Ich öffne Instagram und checke: Wurden meine Bilder gelikt? Habe ich neue Kommentare bekommen? Neue Anfragen? Was haben meine Kolleginnen gepostet? Später mache ich ein Foto von meinem Kaffee und wünsche meinen Follower:innen einen guten Morgen. Dann verbringe ich meine Mittagspause auf Instagram. Ich esse mit der einen und scrolle mit der anderen Hand. Die Nachmittage, die der Familie gehören sollten, gehören heimlich TikTok. Sobald niemand guckt, gucke ich, was es Neues auf meiner For-You-Page gibt. Feierabend heißt für mich: Jetzt ist die perfekte Zeit, etwas auf Instagram zu posten und mit meinen Follower:innen zu interagieren. Im Bett denke ich darüber nach, wie ich einem blöden Kommentar den Wind aus den Segeln nehmen könnte. Und am nächsten Tag geht das Ganze wieder von vorne los.
Jahrelang sah mein Alltag so aus: mit Social Media. Vor vier Jahren hatte ich keine Lust mehr darauf, dass soziale Medien mein Leben und Arbeiten dominierten. Also beschloss ich, auszusteigen und völlig ohne Social Media selbstständig zu sein.
Hatte ich anfangs noch die Sorge, mir damit mein eigenes Grab zu buddeln – schließlich war ich selbst Social-Media-Beraterin und verdiente mit sozialen Medien mein Geld –, erwies sich der Social-Media-Ausstieg als absoluter Glücksfall: Nicht nur gibt es immer Menschen, die – so wie ich damals – müde von Social Media sind und nach guten Alternativen zu Instagram und Co. suchen. Ein Social-Media-freier Arbeitsalltag kommt mit vielen Chancen und Vorteilen, die meine Kund:innen und ich nicht mehr missen möchten.
Die Social-Media-Versprechen haben sich für die meisten nicht erfüllt
Soziale Medien sind kein Muss, wenn wir beruflich erfolgreich sein wollen. Ja, es heißt, dass wir uns auf Social Media selbst vermarkten, online sichtbar werden, unsere Angebote oder uns selbst als Arbeitnehmer:in verkaufen und uns mit anderen Menschen vernetzen können. Doch wie gut klappt das in der Praxis? Jetzt mal in echt und ohne den pastelligen Instagram-Filter?
Für viele Menschen, mit denen ich in den letzten Jahren zusammengearbeitet habe, haben sich die großen Social-Media-Versprechen nicht erfüllt. Trotz Zeit, Geld und Energie, die sie täglich in ihre Social-Media-Präsenz stecken, sind die Resultate bescheiden. Und die meisten berichten, dass sie ihre beruflichen Ziele sowieso auf anderen Wegen erreichen: durch die Website, die für Suchmaschinen optimiert ist, durch einen eigenen Podcast mit spannenden Gästen, durch schlaue Pressearbeit oder durch persönliche Kontakte, ein starkes Netzwerk und Empfehlungen.
Bevor wir also den pauschalen Ratschlägen glauben, dass wir unbedingt Insta und Co. für unser berufliches Weiterkommen brauchen, sollten wir uns erst einmal ein eigenes Bild davon machen, welche Ergebnisse uns soziale Medien konkret bringen:
- Wertvolle Kontakte und Austausch?
- Sichtbarkeit für uns und unser Thema?
- Neue Anfragen und Kund:innen?
- Freude und eine gute Zeit?
Wenn wir einmal tief durchatmen und ganz ehrlich zu uns sind, vielleicht gar nichts so richtig von alldem.
3 Vorteile, Social Media zu verlassen
Auch wenn nach wie vor die Auffassung dominiert, dass es ein beruflicher Nachteil ist, keine sozialen Medien zu nutzen, liegen viele Vorteile auf der Hand:
Gesundheit und Burnout-Prävention
Soziale Medien müssen nicht zur gesundheitlichen Belastung werden. Sie können es aber. Ich habe am eigenen Beispiel erlebt, wie Instagram mit den auf Hochglanz polierten Bildern, der toxischen Positivität und Vergleicheritis zur Herausforderung für meine mentale Gesundheit wurde. Und inzwischen gibt es zahlreiche Studien, die den Zusammenhang von sozialen Medien und Depressionen, Ängsten und Burnout bestätigen.
Wir sind unsere wichtigste Ressource. Nur wenn es uns gut geht und wir bei Kräften sind, können wir kreativ arbeiten und Leistung bringen. Für eine kurze Zeit können wir uns sicherlich „disziplinieren“ und über unsere Grenzen gehen. Doch langfristig wird es sich beruflich wie privat rächen, wenn wir unser psychisches und körperliches Wohlbefinden ignorieren. Wer merkt, dass soziale Medien einen negativen Effekt auf die (mentale) Gesundheit haben, kann einen Alltag ohne Social Media als eine große Entlastung empfinden. FOMO und Selbstzweifel werden reduziert, und auch das Impostor-Syndrom meldet sich seltener.
Zeit und Fokus
Stell dir vor, jemand würde dir von heute auf morgen 730 Stunden schenken. Klingt zu gut, um wahr zu sein? So ging es mir, als ich vor einigen Jahren Social Media verließ: Ohne Insta und Co. hatte ich plötzlich jeden Tag rund zwei Stunden mehr zur Verfügung. Das waren 730 Stunden im Jahr. Ein unfassbarer Luxus!
Plötzlich hatte ich wieder Zeit für Hobbys – ich kaufte mir ein Klavier, fing wieder an, Sport zu treiben, und begann, koreanisch zu lernen – und erfüllte mir mit „No Social Media!“, meinem ersten Verlagsbuch über Social-Media-freies Marketing, einen langgehegten beruflichen Traum.
Wie viel Zeit verbringst du auf Social Media? Und welche deiner Ziele könntest du erreichen, wenn du diese Zeit (und den Fokus!) in deine beruflichen Projekte und Ziele steckst?
Nachhaltigkeit und Unabhängigkeit
Nachhaltigkeit ist in aller Munde. Doch nicht nur bei Konsumentscheidungen, auch bei unserem beruflichen Erfolg dürfen wir Strategien unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit betrachten und uns fragen: Wie nachhaltig ist es, jeden Tag auf Social Media aktiv zu sein? Sind meine Zeit, Energie und mein Geld, die ich für Social Media aufwende, wirklich eine gute Investition? Helfen mir Insta und Co. auch langfristig bei meinen beruflichen Zielen oder verpuffen meine Ressourcen schneller, als ich „Reel“ sagen kann?
Gerade für Selbstständige kommt hinzu, dass sie sich mit Social-Media-Marketing abhängig von den Plattformen und ihren Algorithmen machen. Social-Media-Accounts können jederzeit gehackt oder gesperrt werden, Algorithmen ändern sich, Werbekonten können über Nacht nicht mehr funktionieren. Als ehemalige Social-Media-Beraterin habe ich regelmäßig gesehen, dass nachhaltige, von Social Media unabhängige Alternativen sinnvoll sind, selbst wenn es gar nicht darum geht, Social Media völlig den Rücken zu kehren.
Wer in eine Website, einen Blog oder einen Podcast Zeit, Geld und Energie investiert, investiert in seine Unabhängigkeit und sorgt dafür, dass die Inhalte auch noch nach Monaten (oder gar Jahren!) gefunden, gelesen und gehört werden können. Sollte irgendwas mit deinen Social-Media-Kanälen sein, wäre es zwar ärgerlich, aber zumindest kein großes Drama mehr.
Ich finde, es ist an der Zeit, die Idee, ohne soziale Medien zu leben und zu arbeiten, als valide Möglichkeit für die Praxis zuzulassen, und jeden Menschen selbst entscheiden zu lassen: Wie viel Social Media brauche ich für meinen beruflichen Erfolg? Und: Ginge es auch völlig ohne? Die Antwort ist häufiger ja als wir zunächst denken.
Unsere Autorin Alexandra Polunin
Alexandra Polunin ist eine ehemalige Social-Media-Beraterin, die 2020 so erschöpft von Social Media war, dass sie all ihre Kanäle löschte und sich beruflich neu orientierte. Inzwischen berät sie andere Selbstständige und Online-Unternehmer:innen dabei, Marketing ohne Social Media zu betreiben.
In ihrem im Rheinwerk Verlag erschienenen Buch „No Social Media!“ hilft sie Selbstständigen und Unternehmen dabei, eine individuelle Entscheidung für oder gegen Social Media zu treffen, und stellt bewährte Alternativen zu Instagram und Co. vor.