Einfach noch einmal von vorne anfangen. Sei es nach einer Trennung, einer Krankheit oder einer mittelschweren Lebenskrise, manchmal wollen wir den Reset-Knopf drücken. Aber gibt es den Neustart wirklich und wenn ja: wie gelingt er?
Ganz von vorne beginnen?
Kennt ihr auch dieses „Goodbye Deutschland!“-Phänomen? In der RTL2-Fernsehserie werden Menschen und Familien begleitet, die auswandern. Manchmal haben sie auf einer Insel oder einem fernen Kontinent die große Liebe gefunden und wandern ihr nun hinterher. Oft wünschen sich diese Menschen ein besseres Leben als in Deutschland. Sie suchen es in Amerika (Vom Tellerwäscher zum Millionär!) oder auf einer Sonneninsel (Endlich mehr Lebensqualität!). Ein faszinierendes Phänomen ist dabei, dass diese Menschen an einen wirklichen Neustart glauben. Alles neu, bitte!
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Christiane Kürschner
Schon bald merken sie aber, dass neben dem Hausstand auch alles andere mitzog: Schulden, negative Glaubenssätze, Sorgerechtsstreits, fehlende Ausbildungen und Qualifikationen. Und auch auf Trauminseln muss man arbeiten, um überleben zu können. Und dann folgt bald die Ernüchterung: Schon ein halbes Jahr auf der Insel, aber erst zwei Mal am Strand gewesen. Mist.
Der Nachsendeauftrag gilt nicht nur bei der Post
Deswegen stehe ich dem Gedanken eines Neustarts eher skeptisch gegenüber. Wir bleiben doch überall dieselben Menschen mit unserer Geschichte. Mit Erfahrungen und Erlebnissen, die uns prägen. Ich finde die Idee eines Neustarts schwierig, weil er implizit verspricht, dass wir noch einmal von vorne anfangen können, reinen Tisch machen. Aber das klappt nicht. Bleiben wir beim Umzug. Wir können aus einer Stadt, sogar aus einem Land wegziehen. Die Gründe können eine gescheiterte Beziehung oder ein Jobwechsel sein – vielleicht ist es uns einfach zu eng geworden und wir brauchen Veränderung.
Doch auch in der nächsten Stadt haben wir Liebeskummer oder sind noch sauer auf den Ex. Oder wir sitzen in der neuen Wohnung und müssen uns zum ersten Mal mit den Fragen konfrontieren: Warum ist es mir an meinem letzten Wohnort zu eng geworden? Was erwarte ich jetzt eigentlich an Veränderungen? Wir bekommen alle Probleme, ungeklärte Fragen und Herausforderungen mitgeschickt, sogar kostenfrei.
Kalibriere deinen Kompass
Deshalb würde ich, anstatt von einem Neustart, eher von einer Neujustierung sprechen. Wer sein Leben ändern und damit einen Neustart wagen möchte, braucht zunächst einmal das Bewusstsein, warum er das möchte. Womit bist du unzufrieden in deinem Leben? Was fehlt dir? Wenn du dir dessen nicht bewusst bist, haben Veränderung kein festes Ziel. Weißt du aber, was fehlt und wo es Veränderungen braucht, kannst du direkt auf dieses Ziel zusteuern.
Ich war zum Beispiel über einen längeren Zeitraum sehr unzufrieden in meiner Selbstständigkeit. Irgendwie machte das Texten gar keinen Spaß mehr, ich konnte mich nur schwer konzentrieren. Also ging ich in Klausur mit mir selbst und schaute, wo es hakt. Nach einem zehrenden Prozess hatte ich die Antwort: Mir fehlte die inhaltliche Ausrichtung. Mich touchten die Themen nicht mehr, andere habe ich einfach zu oft durchgedacht. Ich wollte mit meinem Job zukünftig einen Impact leisten und texte seither vorrangig in den großen Bereichen der Sustainable Development Goals und der Persönlichkeitsentwicklung. Ich musste also nicht auswandern und brauchte auch keinen Jobwechsel. Manchmal hilft es bereits, an vermeintlich kleinen Stellschrauben zu drehen und Routinen zu verändern, um wieder in die Spur zu gelangen.
Neustart planen: Reality Check machen
Vielleicht kommt so mancher innerhalb dieser Überlegungen zu dem Schluss, dass er mit den Rahmenbedingungen seines Lebens tatsächlich unzufrieden ist. Okay, dann geht es vielleicht doch auf die Insel. Aber auch dann bitte nicht sofort die Koffer packen, sondern ganz genau hinschauen, inwiefern die Rahmenbedingungen nicht passen. Dann kommt der wichtigste Schritt, den manche überspringen: Der Reality Check. Stattdessen handeln viele aus einem Mangel heraus.
- Sie fühlen sich in ihrem Job nicht genug gefordert.
- Sie fühlen sich in ihrer Partnerschaft nicht genug gesehen.
- Sie fühlen sich nicht erfüllt.
Es folgt die Übersprungshandlung. Das kann der Umzug sein, die Trennung oder der Jobwechsel. Dabei verpassen sie die Chance, sich zu fragen:
- Welche Tätigkeit würde mich (wieder) herausfordern?
- Was müsste passieren, dass ich mich in meiner Partnerschaft wieder gesehen fühle?
- Was könnte mich in welchem Lebensbereich erfüllen?
Wenn es auf diese Fragen Antworten gibt, sind sie wie ein Kompass, mit dessen Hilfe geplant werden kann. Eine solche Herangehensweise schützt auch davor, sich den Neustart wie einen Traum vorzustellen, in dem alles anders als zuvor und vor allem sehr positiv ist. Ein Neustart birgt immer ein Risiko, bringt Unwägbarkeiten mit sich und hat negative Seiten. Wer aber den Reality Check macht, der kann sich auch darauf vorbereiten.
Als Tool möchte ich dir die SWOT-Analyse ans Herz legen. Die kommt zwar aus der BWL, kann aber auch für die strategische Planung deines Neustarts genutzt werden. Setz dich hin und überlege ganz genau, was die Vorteile und Chancen eines Neubeginns sind. Aber: Dann sei auch ganz ehrlich und erstellt eine Liste mit den Nachteilen und Risiken. Und dann wäge alles gegeneinander ab und schlafe mindestens eine Nacht darüber.
Übrigens: Auch ich habe vor einigen Jahren einen Neubeginn gewagt und bin aus Berlin heraus auf das Brandenburger Land gezogen. Was soll ich sagen: Ein Finanzamt samt Umsatzsteuervoranmeldungen und schlechtes Wetter gibt es hier auch – und meine Kinder sind hier genauso laut und nervig. Überrascht hat mich das aber zum Glück nicht, denn die Entscheidung für diesen Neustart war sehr lange überlegt. Chancen und Risiken wurden gegeneinander abgewogen, den Reality Check machte ich schon lange vor dem Immobilienkauf. Kleine und mittelgroße Überraschungen gab es trotzdem, aber das bringen Neuanfänge mit sich und machen den Prozess ja auch so spannend.
Dir viel Freude beim Kalibrieren!