[Text: Ananda Grade] Inderinnen in seidenen Gewändern tanzen Räucherstäbchen schwenkend vor Götterstatuen: Das ist ein Bild der Bollywood-Filmindustrie. De facto sind indische Frauen in ein komplexes Gesellschaftsmuster verstrickt. Besonders, wenn es um die Karriere geht. Die neue Generation der Frauen will das ändern – ohne jedoch die Traditionen zu vernachlässigen.
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Pune bei Sonnenaufgang: Priya streut mit buntem Sand ein Mandala vor ihre Haustür. Das kreisrunde Muster aus verschachtelten Farben und Formen ist eine Tradition des Hinduismus. Dann ist das kleine Kunstwerk fertig. Priya richtet ihr Salvarkameez (Haremshose, langes Oberteil, dünner Schal) und geht zur Arbeit. Sie ist IT-Consultant eines führenden Software-Herstellers und zählt damit zu den modernen Frauen Indiens: »Die neue Generation ist gebildet und weiß genau, was sie will. Sie hat gelernt, den Gesellschaftsdruck zu ignorieren, Karriere zu machen und unabhängig zu sein«, so die 28-Jährige. Doch die Traditionen und Familienpflichten sind ihr genauso wichtig: »Dass eine Frau heiratet und Kinder bekommt, hat immer noch höchste Priorität.«
Auf Priya wäre Mahatma Gandhi stolz gewesen. Der Anführer der indischen Unabhängigkeitsbewegung sagte einmal, ein Land sei so fortgeschritten wie seine Frauen. Seit 1950 gelten in Indien gleiche Rechte für Mann und Frau. Nach Jahrzehnten der Frauenbewegung wurde 1985 das »Ministry of Women and Child Development« eingeführt, ein Amt für die Bedürfnisse und Rechte von Frauen und Kindern.
Doch die Realität in Indien sieht anders aus. Der Global Gender Gap Report 2011 des World Economic Forum (WEF) verweist Indien auf Platz 113 von 135, was die Gleichstellung der Frauen angeht. Ein Jahr zuvor stellte das WEF fest, dass lediglich 23 Prozent der Inderinnen eine Stelle in einem Unternehmen haben. Meistens ohne Aufstiegschancen.
Frauen nur zweite Klasse: Das Patriarchat des Hinduismus
Das Problem wurzelt in der Gesellschaftsstruktur: 80 Prozent der Bevölkerung sind Hindus, deren Religion Frauen als zweitklassig betrachtet und in erster Linie ein Patriarchat vorsieht. Hinzu kommt das Kastensystem, das bis heute in den Köpfen der Inder verankert ist: Brahmanen zählen zur Elite, Kshatriyas sind häufig höhere Beamte, Vaishyas sind üblicherweise Kaufleute, Shudras sind meist Landwirte. In manchen Teilen des Landes gibt es sogar Parias, die unterste Kaste der Unberührbaren. Und auch Reichtum und regionale Herkunft spielen eine wichtige Rolle für den sozialen Status.
Indiens Gesellschaftsstruktur ist wie das Mandala, das Priya morgens gestreut hat: Verschiedenste Farben und Formen sind miteinander verwoben. Die indische Frau ist darin ein Sandkorn in einem vorbestimmten Konstrukt, und besonders Frauen aus einer niedrigen Kaste können das Muster nur schwer durchbrechen. Ein positives Beispiel ist Chandawati Devi, die die sich 1955 als erste Frau der untersten, unberührbaren Kaste den Posten der Ministerpräsidentin im Bundesstaat Uttar Pradesh erkämpft hat.
Inderinnen folgen Karriere-Mandala
Priyas Freundin Tahirah ist ebenfalls in der IT-Branche tätig. Die 26-jährige Muslimin weiß, dass ihr moderner Lifestyle nicht selbstverständlich ist: »Ich habe Glück, dass meine Eltern und mein Ehemann meine Ingenieurskarriere unterstützen. Es kommt darauf an, wie offen dein Umfeld oder deine Gemeinde ist.« Tahirah hält es für unmöglich, eine allgemeingültige Aussage über die Karrierewege indischer Frauen zu treffen. Die indische Gesellschaft sei zu komplex gestrickt.
Priya und Tahirah gehören zur aufstrebenden Mittelschicht von rund 300 Millionen Indern, die ein modernes, erfülltes Leben genießen. Sie haben studiert, legen Wert auf Karriere, und ihre Familie unterstützt sie. Doch auch diese Inderinnen spüren, dass ihr Land nach wie vor altmodisch und konservativ ist. Noch heute überwiegt bei den Frauen die Skepsis, in der Öffentlichkeit zitiert zu werden – aus Angst vor negativen Konsequenzen. Deshalb wurden die Namen aller hier erwähnten Personen geändert.
Mit altmodischen Vorstellungen wird auch Joana, Zahnärztin und Katholikin im südindischen Bundesstaat Karnataka, täglich konfrontiert: »Die Leute glauben, dass Ärzte bessere Arbeit leisten als Ärztinnen.« Trotzdem saßen in ihrer Studienklasse überwiegend Frauen: »Um ihre Chancen auf dem Heiratsmarkt zu erhöhen«, erinnert sich die heute verheiratete 32-Jährige.
Zwei Drittel Lohnunterschied zwischen Mann und Frau
Das Patriarchat wirkt sich auf die Karriere indischer Businessfrauen aus. Zwar zeigt eine Studie der EMA Partners 2011, dass in den 240 größten indischen Unternehmen 11 Prozent der CEOs Frauen sind (in den 200 größten deutschen Unternehmen sind es weniger als 4 Prozent). Der WEF-Gender-Report 2010 stellt allerdings fest: Im Unternehmenssektor verdienen indische Frauen im Durchschnitt nur ein Drittel des Gehalts ihrer männlichen Kollegen.
In den 30er Jahren prophezeite Mahatma Gandhi, dass die Zukunft eines Tages den Frauen gehören wird. Auch Priya ist zuversichtlich: »Im modernen Indien wird sich einiges ändern. Ich merke, dass sich immer mehr Inderinnen für eine Karriere und ein unabhängiges Leben entscheiden.«