Etwa drei Stunden von Edinburgh, an der Ostküste Schottlands, liegt Aberdeen, die „silberne Granitstadt“, wie die Schotten sie liebevoll nennen. Aberdeen ist Europas Ölmetropole – und eine beliebte Studentenstadt, in die jedes Jahr junge Leute aus aller Welt strömen. Eine dieser Studentinnen ist Ritti Soncco, Luftakrobatin und Gründerin von „Inverted – Circus and Pole Fitness„. Mit ihr sprach Ariane Vera für Business Ladys.
An der 1495 gegründeten University of Aberdeen in der Altstadt Aberdeens lernten sich Ritti Soncco aus Deutschland und Peru, Theo aus Schottland und Elsi aus Griechenland kennen. Zwei Jahre später sind sie zu jungen Unternehmern geworden, die inmitten von grauem Granit ihr buntes Unternehmen „Inverted – Circus and Pole Fitness“ gegründet haben.
Schon vor fast zehn Jahren hat die Luftakrobatik Ritti beflügelt – damals stand sie allerdings noch auf dem Boden, hinter den Kameras eines führenden Medienunternehmens in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz.
Nun ist die bescheiden wirkende Deutsch-Peruanerin sprichwörtlich aufgestiegen: Luftakrobatik ist zu ihrem zweitem Namen geworden. „Ich habe einen meiner Kurse nun aufgeteilt in Trapez und Luftakrobatik“, sagt sie mit einem verschmitzten Lächeln, „Früher lief das zusammen. Ich bin so begeistert von Luftakrobatik, dass das Trapez manchmal fast etwas zu kurz kommt. Das wäre nicht fair.“
Vor zwei Jahren zog Ritti nach Aberdeen, um ihr Studium der Anthropologie und Hispanischen Studien zu beginnen. Noch vor ihrer Abreise fragte sie bei der Jonglagesociety der Universität nach, ob sie wohl Interesse an Luftakrobatik hätten. Ritti bekam eine Antwort: erstmal nicht, aber sie würden ihr helfen, nach Räumlichkeiten zu suchen. Kurze Zeit später klopften sich von Tür zu Tür, bis sie tatsächlich Räume fanden, in denen sie Luftakrobatik unterrichten könnte.
Ihr Schüler waren begeistert – und die Nachfrage stieg. Anfangs fragte Ritti vorsichtig bei ihren Schülern nach, ob sie sie auch während der Prüfungsphase unterrichten werden wollten. Sie erntete einstimmigen Zuspruch: „Genau dann brauchen wir den Zirkus doch am meisten!“
Die Jonglagesociety wurde zur Zirkussociety und bot neben Jonglage auch Akrobatik und Luftartistik an. Ritti unterrichtete viermal in der Woche – zweimal an der Universität, zweimal in der Innenstadt. „Dort durften wir wirklich zu jederzeit und so lange wir wollten die Räumlichkeiten benutzen. Manchmal blieben wir bis Mitternacht. Wir sind eine kleine Zirkusfamilie geworden.“, erzählt Ritti.
Eine große Zirkusfamilie
Nach etwa einem Jahr war die Familie so groß geworden, dass sie tatsächlich größere Räume brauchten. Ritti stellte einen Flyer zusammen und stellte ihn auf Facebook: „Wir brauchen Platz.“, schrieb sie kurz als Überschrift. Eine Welle an Feedback kam zurück und Ritti und Theo fanden ein Gebäude, das zu ihnen passen würde. „Wir sahen erst nur den unteren Raum. Dann frage der Makler, ob wir auch noch das obere Stockwerk sehen wollten. Theo und ich sahen uns nur an und wussten: das ist es!“ Sie hatten es gefunden, das Gebäude, das ihren Traum verwirklichten könnte.
Etwa zur gleichen Zeit hörte Ritti von einer Ausschreibung der Young Innovators Challenge, ein von der schottischen Regierung geförderter Wettbewerb, der junge Entrepreneure in den Kategorien Gesundheit, Nachhaltigkeit und Soziales auszeichnet. Ritti reichte ihre Idee „Sozialer Zirkus“ ein. In einem zweiminütigen Video stellte sie ein Konzept vor, wie durch den Zirkus sowohl gesundheitliche, als auch soziale Probleme in der Kommune gelöst werden können.
Jonglieren gegen Demenz und Alzheimer
„Jonglieren beugt unter anderem Demenz und Alzheimer vor“, erklärt Ritti, „Mit dem Zirkus hoffen wir aber auch Lösungen für Herausforderungen wie Alkoholismus und Kriminalität bieten zu können.“
Die Teilnehmer der Kurse und Workshops sind ein Beispiel dafür, wie der Zirkus das Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen stärken kann. „Es ist das tollste Gefühl, wenn man plötzlich selber das machen kann, was man vorher vielleicht bei Anderen bewundert hat und sich dachte: das schaffe ich nie!“ sagt Ritti. „Wenn man es dann wirklich schafft – das beflügelt einen und stärkt das Vertrauen in sich selbst.“
„Wenn man es dann wirklich schafft – das beflügelt einen und stärkt das Vertrauen in sich selbst.“
Im Mittelpunkt: Vertrauen
Vertrauen steht beim Zirkus im Mittelpunkt. „Ohne Vertrauen klappt es nicht“, betont Ritti. Man arbeitet eng zusammen –mit den Trainern, aber auch mit anderen Trainierenden, auf die man sich hundertprozentig verlassen muss. Zirkus ist Kommunikation und Dialog.
Die Jury des Young Innovators Challenge sah die Stärken des Zirkus. Eine Woche später erhielt RiItti die Rückmeldung: sie hatten tatsächlich den Preis gewonnen. Gemeinsam mit Theo und Elsie, mit denen sie bereits in der Zirkussociety der Universität gearbeitet hatte, gründete Ritti das Unternehmen „Inverted Aberdeen“. Der Meilenstein war gelegt.
Mit dem Preisgeld konnten sie die neuen Räumlichkeiten finanzieren. Über die Sommerferien wurde gestrichen, renoviert, gebaut, Kabel verlegt. „Es fehlt nicht mehr viel“, sagt sie strahlend, „dann werden die Türen zu Inverted geöffnet.“
Um den Spagat zwischen Artisten und Unternehmern zu schaffen, wurden die Aufgabenbereiche nach Stärken und Schwächen jedes Einzelnen eingeteilt. Ritti ist nun zuständig für Luftartistik, Administration und Public Relations, Elsie für Akrobatik, Management und Finanzen und Theo für Pole Dance und Management. „Am Anfang ist es sehr viel Bürokratie“, erzählt Ritti. Eine zusätzliche Herausforderung sind die schottischen Unternehmensstrukturen und Gesetzesvorgaben, die sich von denen in Deutschland in vielen Dingen grundlegend unterscheiden. Die drei arbeiten eng zusammen, sprechen sich ab, erinnern sich gegenseitig – und stecken ihre Energie zu hundert Prozent in ihr neues Projekt.
„Es ist so ein schöner Träume“, sagt Ritti, „der verdient es einfach, wirklich ernst genommen zu werden. Wir geben alles.“
Es gibt viele Leute, die mit den Dreien träumen. Es hat sich eine eigene Zirkusgemeinschaft gebildet, die hilft, wo sie kann. Vor der Arbeit, nach der Arbeit, in jeder freien Minute. „Natürlich gibt es Wettbewerb beim Zirkus“, sagt Ritti, „Aber man ist immer so freundlich und lieb miteinander, man hilft sich, wo man kann. Man lernt vom Anderen und gibt dann wiederum an Andere weiter, was man neu gelernt hat.“ Ein hundertprozentiges Geben und Nehmen. Ein Miteinander, das Werte lehrt, die große Wellen in der Gesellschaft schlagen können und zu positiver Veränderung führen.
„Anfangs hatte ich Angst, dass niemand kommen würde. Jetzt habe ich Angst, dass wir nicht genug Kurse geben können!“, grinst sie. Interessierte und Zirkusbegeisterte fragen schon jetzt nach, wie oft sie in der Woche trainieren würden, einige Societies der Universität haben Kooperationen vorgeschlagen.
„Wir möchten auf jeden Fall mit der Zirkussociety der Universität eng zusammenarbeiten. Das war meine erste Anlaufstelle, damals, als ich angekommen bin in Aberdeen.“ Das war Rittis erste kleine Zirkusfamilie, die inzwischen zu einer Großfamilie geworden ist. In nur zwei Jahren hat sie gemeinsam mit Theo und Elsie eine Stadt begeistert – und gemeinsam bringen sie als Artisten und Entrepreneure weiterhin Farbe in zwischen die grauen Straßen der Granitstadt.