
Worte können leicht sein – und schwer. Sie gleiten von Zungen, fliegen durch Chats, ploppen in Feeds auf – und manchmal treffen sie uns an Stellen, die wir längst vergessen hatten. Worte formen unsere Beziehungen, unsere Überzeugungen, unsere Entscheidungen. Sie gestalten unsere Welt.
Der Welttag des Buches ist der perfekte Moment, um uns an die Kraft von Worten zu erinnern – an solche, die bleiben – in Büchern ebenso wie in Menschen.
Inzwischen generiert KI längst zahlreiche Geschichten, gestaltet Buchcover und kalkuliert im besten Fall sogar Verkaufszahlen. Deshalb braucht es umso mehr Räume für das Echte. Für die Bücher, die unperfekt statt glatt sind – aber ehrlich. Für Stimmen, die gehört werden, ohne dass sie schreien müssen. Und für Texte, die nicht nur auf Klicks abzielen, sondern die Spuren hinterlassen.

Ich erinnere mich noch genau an das erste Buch, das mich vollkommen in seinen Bann gezogen hat: »Interview mit einem Vampir« (damals noch »Gespräch mit dem Vampir«) von Anne Rice. Ich war viel zu jung, um alles zu verstehen, was zwischen den Seiten geschah. Vielleicht war es genau das, was mich so gefesselt hat.
Ok, Blut und Unsterblichkeit fand ich mystisch und spannend. Aber viel mehr hat mich die Melancholie gepackt.
Die Einsamkeit dieser ewigen Seele und die Fragen nach Schuld und Sehnsucht, nach dem, was ein Leben ausmacht, wenn es kein Ende kennt. Es war das erste Mal, dass ein Buch mir nicht nur eine Geschichte erzählt hat, sondern eine Tür geöffnet hat in eine andere Welt und in mein Inneres. Was war ich stolz, als ich diese unglaubliche Autorin 2009 via Skype interviewen durfte und sie die Videos dazu auf ihren YouTube Kanal gestellt hat.

Später kam Patti Smiths »Just Kids« – ein stilles Denkmal für Freundschaft und Kunst. Smith schreibt roh und intoniert so zart, dass ich von der ersten Seite an drin war in ihrer Geschichte voller Tragik und Scheitern. Aber zum Glück bleibt auch viel Findung und Entstehung. Zwischen all den legendären Namen, die darin auftauchen, ist bei mir vor allem hängengeblieben:
Kunst entsteht durch Hingabe zum Leben. Ruhm ist nur eine Begleiterscheinung, die vielen überhaupt nicht guttut.

Und dann »Der Distelfink« von Donna Tartt – ein Buch, das mir gezeigt hat, wie sehr Geschichten Räume schaffen, in denen wir das tragen können, wofür es im Alltag oft keinen Platz gibt. Es ist kein leichter Roman, weder in seiner Länge noch in seinem Thema oder in dem, was er zurücklässt. Aber genau das hat mich mitgenommen. Wie Tartt es schafft, Verlust nicht zu verklären, sondern auszuhalten.
Und sie ist die Meisterin des Erzählens, ohne zu erklären. Sie dehnt Zeit. Sie lässt Stille zu. Und sie bleibt ganz nah an der inneren Bewegung. Nicht alles wird ausgesprochen, aber vieles schwingt mit – Gedanken, Erinnerungen, Widersprüche. Und das Gemälde des Distelfink im Zentrum, wird zur Fläche für Erinnerungen für den roten Faden, der die Leser:innen durch die Geschichte führt und vieles zwar nicht greifbar macht, aber stets spürbar.
Vielleicht ist genau das die leise Kraft guter Literatur: Sie löst nichts auf, macht aber alles spürbar. Sie lässt Fragen offen und berührt trotzdem. Sie erinnert uns daran, dass Worte die Welt nicht beschreiben, sondern formen.
Und deshalb bin ich überzeugt davon, dass Bücher nicht altmodisch sind. Sie sind subversiv, weil sie verlangsamen, vertiefen, verwundern. Sie brauchen Zeit und schenken Zeit. Sie öffnen Welten, liefern uns aber keine Gebrauchsanweisung mit. Sie erzählen die Welt anders – und manchmal erfinden sie eine ganz neue – nur mit Worten.
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Jana Assauer hört »Lesbisch werden in 10 Schritten« von Louise Morel

Immer, wenn mich jemand nach einer Buchempfehlung fragt, friert erst einmal mein Kopf ein. Auf gähnende Leere folgt ein unübersichtlicher Gedankensturm an Geschichten, Buchtiteln, Emotionen, vermischt mit den mentalen Bildern der jeweiligen Buchcover oder der Orte, an denen ich die Bücher gelesen habe. Dort eins rauszugreifen und mich für nur eine Geschichte zu entscheiden – unmöglich. Was hilft, ist ein Blick ins Bücherregal, um sich auf die vor den Augen liegende Auswahl zu beschränken, oder die Konzentration auf das Buch, das mich als letztes berührt hat oder das aktuell vor mir liegt.
Aktuell auf den Ohren, damit beim Joggen und Wäsche falten auch mein Kopf etwas zu tun hat, habe ich das Sachbuch »Lesbisch werden in 10 Schritten« der Französin Louise Morel. Wer jetzt gleich denkt, das geht mich nichts an, dem kann ich nur sagen: Moooment, nicht so schnell!
Ich habe selbst weder vor, lesbisch zu werden, noch bin ich davon überzeugt, dass man sich seine sexuelle Orientierung einfach so aussuchen kann. Morel jedoch beschreibt ihren eigenen Weg, auf dem sie auch männliche Partner hatte, als Entscheidung für ein lesbisches Leben. Was Morel durch ihre Anleitung aber vor allem schafft: dass wir beim Lesen oder Hören Heterosexualität als sozio-politisch konstruierte Norm erkennen und hinterfragen.
Wenn wir nicht die Perspektive wechseln und andere Lebensrealitäten und -möglichkeiten ergründen, ist das fast unmöglich. Es ist doch alles »normal«. Statistisch gesehen ist es auf jeden Fall normal, dass ich es bin, die zu Hause die Wäsche faltet. Aber eben nur im Vergleich zu anderen heteronormativen Beziehungen, die uns von klein auf als die Norm vorgelebt werden. Während meines Studiums habe ich zwei afrikanische Sprachen gelernt. Ich nutze sie kaum noch, aber was mir bis heute nützlich ist, ist die Erkenntnis, wie stark strukturiert und eingeschränkt unsere Weltsicht durch unsere Sprache ist und dass man beispielsweise Zeit ganz anders wahrnehmen kann.
Ich bin erst bei der Hälfte von Morels Buch, in dem es tatsächlich auch ganz praktische Tipps für Frauen oder FLINTA gibt, die zumindest bicurious sind. Das richtig einzuordnen, fällt vielen bereits schwer, da die meisten von uns so sozialisiert wurden, in anderen Frauen Rivalinnen zu sehen. Wie unterscheiden wir, ob wir eine Frau anziehend finden oder einfach nur so sein wollen wie sie? Über die Dynamiken dahinter und wieso uns echte Schwesternschaft häufig schwerfällt, berichtet Morel im Kapitel »Misandry, my Love – Sisterhood, my Beauty«.
Was das Buch aber bisher vor allem besonders gut auf den Punkt gebracht hat, ist die kognitiven Dissonanz, die bei hetero Frauen einsetzt, sobald sie ein feministisches Bewusstsein entwickeln:
Wie können wir die Brutalität männlicher Herrschaft mit unserer Liebe für einen Menschen vereinbaren, der davon profitiert? Wie überwinden wir die Diskrepanz zwischen dem politischen Bewusstsein über die Auswirkungen des Patriarchats und einem heterosexuellen Alltag, der seine Gesetzmäßigkeiten auf so offensichtliche und gewohnte Weise zu Tage treten lässt, dass es uns gar nicht mehr auffällt.
Louise Morel, aus: »Lesbisch werden in zehn Schritten«
Der erste Reflex ist Morel nach meistens, die die eigene Beziehung als einen Raum begreifen, der sich der männlichen Herrschaft entzieht. Nach dem Motto: Alle Heterobeziehungen sind patriarchal – außer meine. Dass das nicht aufgeht, da es auch noch Räume außerhalb dieser Beziehung gibt, ist klar. Ob mich Morels Lösungsansätze überzeugen oder ich noch weiter nach eigenen Wegen suchen muss, um diese Dissonanz zu überbrücken, kann ich erst nach der vollständigen Lektüre aka dem nächsten Wäscheberg sagen.
Literatur, die bleibt – Sarah Adamus empfiehlt »Mit dir, da möchte ich im Himmel Kaffee trinken«

Es gibt Bücher, die berühren auf eine Weise, die sich kaum erklären lässt – nicht etwa wegen einer einfallsreichen Handlung, sondern weil ihr Ton etwas im Inneren trifft – dort, wo man sich selbst wiedererkennt, auch wenn die eigene Geschichte eine andere ist; dort, wo die Empfindungen der Heldin mit den eigenen Gefühlen, Erfahrungen und Sehnsüchten resonieren.
Sarah Lorenz‘ Debüt »Mit dir, da möchte ich im Himmel Kaffee trinken« ist so ein Buch: wild, offen, ungeschönt – ein Text voller Poesie und Schmerz, Güte und Wut, der das »Genau-Richtig« für das »Immer-zu-viel« ist.
Die Protagonistin Elisa nimmt uns mit auf eine Reise in ihre Vergangenheit – erzählt in einer wiederkehrenden Ansprache an die Lyrikerin Mascha Kaléko, deren Gedichte den Kapiteln des Romans vorangestellt sind. Kalékos Verse begleiten die Prosa wie ein zweiter Erzählstrang, sie sind die Stimme einer Freundin, die ergänzt, bebildert, verdichtet.
So wird Sarah Lorenz‘ Roman mehr als eine Lebensgeschichte. Er ist auch eine Hommage an das Lesen selbst – an Bücher und Texte als Erinnerungsort, als Trostraum, als Rettung. Sarah Lorenz erzählt in einem Ton, der bleibt: schonungslos, freizügig, feinfühlig, nahbar und tief. Ihre Sprache hat nichts Prätentiöses – sie fließt und sie berührt. Mascha Kalékos Gedichte sind ihr lyrisches Spiegelbild. Gemeinsam entfalten die Texte eine literarische Kraft, die selten ist: ohne direkten Austausch treten hier zwei verwandte literarische Stimmen in einen Dialog: Zwei Autorinnen, durch Jahrzehnte getrennt – und doch vereint in ihrer Liebe zur Sprache, ihrer Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit und ihrer Fähigkeit, mit Worten zu berühren, was oft unaussprechlich scheint.
»Mit dir, da möchte ich im Himmel Kaffee trinken« ist ein Buch, das wehtut – aber auch heilt. Ein Buch über Verlust, Erinnerung und Hoffnung. Und vor allem ein Buch über das, was Worte mit uns machen können: wie sie verwunden – und wie sie retten. Es ist eines, das bleibt – wenn man es einmal hineingelassen hat.
Und wenn wir am Welttag des Buches all jene Texte feiern, die in uns etwas anstoßen, dann zitieren wir zum Schluss die beiden ans Herz gewachsenen Autorinnen, die Literatur so sehr lieben, wie wir – und uns aus der Seele sprechen:
Eine echte Buchhandlung muss Kopfsteinpflaster vor der Tür haben. Eine echte Buchhandlung darf nicht zu modern wirken. Sie muss in jedem Jahrhundert dort gestanden haben können. Man darf ihr nicht ansehen, dass wir schon in der Zukunft leben.
Sarah Lorenz, aus: »Mit dir, da möchte ich im Himmel Kaffee trinken«
Der Kakerlak nährt sich vom Mist,
Die Motte frisst gern Tücher,
Ja selbst der Wurm ist, was er isst.
Und ich, ich fresse Bücher.
Ob Prosa oder Poesie,
Ob Mord – ob Heldentaten –
Ich schmause und genieße sie
Wie einen Gänsebraten.
Ich bin ein sehr belesener Herr,
Nicht wie die andern Viecher!
Dass Bücher bilden, wisst auch ihr,
Und ich – ich fresse Bücher.
Die Nahrung, sie behagt mir wohl,
Verleiht mir Grips und Stärke.
Was andern Wurst mit Sauerkohl,
Das sind mir Goethes Werke.
Ich fraß mich durch die Literatur
So mancher Bibliotheken;
Doch warn das meiste, glaubt es nur,
Bloß elende Scharteken.
Das Bücherfressen macht gescheit.
So denken sich´s die Schlauen.
Doch wer zu viel frisst, hat nicht Zeit,
Es richtig zu verdauen.
Drum lest mit Maß, doch lest genug,
Dann wird’s euch wohl ergehen.
Bloß Bücher fressen macht nicht klug!
Man muss sie auch verstehen.
Mascha Kaléko: »Ansprache eines Bücherwurms«